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Egmating nach dem Ende des 2. Weltkrieges, Teil 4 – Zeitzeugen berichten

Josef (Beppe) Schnabl

geb. 1941

Heimatvertriebener aus dem Egerland

1946 wurde meine Mutter, mein Vater, mein 12 Jahre älterer Bruder und ich, sowie viele weitere Landsleute, in nach oben offene Viehwaggons gepfercht und per Bahn aus Tachau/Egerland vertrieben. Obwohl ich erst 5 Jahre alt war, kann ich mich noch an den starken Funkenflug der Lokomotive über uns und der Angst, dass das Stroh auf dem wir saßen zu brennen beginnt, erinnern. Über einen Zwischenaufenthalt nähe Markt Schwaben kamen wir 1947 nach Egmating bzw. Orthofen, wo wir beim Hintermair/Maier in einem Zimmer einquartiert wurden. Unvergessen bleiben bei mir die Schlittenfahrten von der Wasserreserve in Orthofen an der Voglrieder-Villa vorbei über die Straße bis in den Voglrieder Hof – es war damals ja noch kein Verkehr. Da stand auch das Auto von Dr. Panzner, eines der wenigen in Egmating. Er hatte im Voglriederhaus, später im eigenen Haus Richtung Oberpframmern sein Behandlungszimmer. Dr. Panzner war ein begeisterter Fußballfan und später immer an den Fußballspieltagen in Oberpframmern dabei, falls ein Arzt benötigt wird. Übrigens wurde der TSV Oberpframmern u. a. auf Initiative vieler Heimatvertriebener, die dort wohnten, 1949 gegründet und war zur damaligen Zeit die Anlaufstelle vieler Fußballer auch aus Egmating, einschließlich mir.
Nach ca. zwei Jahren übersiedelten wir zum „Berger“ Riedmeier nach Egmating. Auch da waren die Platzverhältnisse begrenzt und wir zogen einige Jahre später in das Wurtingerhaus, dem ehem. Austragshäusl von Familie? Frombeck/Deinhofer. Hier wohnte ich bis 1959. Danach folgte die Bundeswehr sowie Heirat und der Umzug nach Oberpframmern.
Unvergessen bleibt die Einschulung 1947 bei Lehrerin Finsterwalder. Es gab nur zwei Klassenzimmer für acht Volksschulklassen. Ein großes Gedränge, da ja sehr viele Kinder von Heimatvertriebenen neu hinzu kamen. Mehrmals in der Woche gab es eine Schulspeisung. Die meisten Kinder hatten einen kleinen Blechbehälter sowie einen Löffel mit Draht am Schulranzen befestigt und dann ging es über die Straße ins Bräustüberl, wo die Frau Hettenkofer dann, je nachdem was gerade da war, für 10-20 Pfennig pro Mahlzeit Suppe oder Gulasch oder Kakao, ausgeteilt hat.
Ich war kurz nach der Einschulung schon Ministrant, damals noch bei Dekan Welker, und später auch Mesner, bis ich zur Bundeswehr kam. Es war ein Amt, auf das ich stolz war und habe es auch sehr diszipliniert praktiziert.
Manche Ministranten von damals werden sich noch an mich als sehr akribischen Oberministranten erinnern. Zusätzlich habe ich noch Glockendienst (Gebetläuten in der Früh, Mittag und Abend) und des öfteren auch das Aufziehen der Turmuhr gemacht. Dafür gab es pro Tag 10 Pfennig. Mit dem Geld habe ich mir dann öfter Erdnüsse oder Süßigkeiten beim Gärtner Lins gekauft. Sein Wohnhaus war gegenüber dem heutigen Dorfladen, ist jedoch inzwischen abgerissen. Bleibender Eindruck waren die immer erdigen, schwarzen Hände des Gärtners und der dreirädrige Kleinstwagen mit offener Ladefläche zum Ausfahren von Obst und Gemüse.
Das Zusammenleben von den einheimischen Kindern mit den heimatvertriebenen Kindern war ohne Probleme und von gegenseitiger Neugier geprägt. Lediglich wenn es hieß, wir gehen heute zum Kastensee zum Baden oder wir treffen uns auf dem Bolzplatz, haben die meisten einheimischen Kinder abgesagt. Es passte vermutlich nicht in den bäuerlichen Lebensstil zur damaligen Zeit.

Nach vielen Jahren kehrte Josef Schnabl an seine alte Wirkungsstätte zurück. Sein Ingenieurbüro übernahm die elektrotechnische Planung und Durchführung im Rahmen der Renovierung der Egmatinger Pfarrkirche.

Martin Stürzer sen.

geb. 1938

Einheimischer, Egmatinger seit Kindheit

Ich bin beim Soyerwirt aufgewachsen. Es war eine kleine Gastwirtschaft im Unterdorf. Vor der Wirtschaft war der Maibaum, der erst später in das Oberdorf, beim Gasthof Wallner, umgesiedelt wurde.
Die Gastwirtschaft wurde, wie auch die beiden anderen Wirtschaften Bräustüberl und beim Held (später Wallner), teils als Kommandozentrale bzw. Unterkunft von der deutschen Wehrmacht benutzt. Auch Schulräume wurden für die Unterkunft von Marschkompanien abgegeben. Auch kann ich mich noch an Panzersperren mit großen Baumstämmen vor der Einfahrt zur Brauerei erinnern. Im Gedächtnis ist mir auch geblieben, wie alle plötzlich weiße Fahnen herausgehängt haben und wie ca. 50 deutsche Wehrmachtsmitglieder aus unserer Gastwirtschaft rausgelaufen sind. Sie haben die Wehrmachtsuniform ausgezogen und sind in eine zivile Arbeitskleidung geschlüpft und Richtung Felder weggelaufen.
Als Kind habe ich das natürlich nur als Aktionen wahrgenommen, ohne zu wissen was der wahre Grund war. Einige Tage später gab es dröhnende Geräusche und es kamen große Fahrzeuge (es waren natürlich Panzer) auf der Dorfstraße näher und vorne weg fuhr ein Jeep mit vier Soldaten. Ich stand direkt an der Straße und habe zum ersten mal einen „schwarzen“ Menschen gesehen. Es waren, wie ich heute natürlich weiß, die Amerikaner. Ich kann mich noch erinnern, dass wir einige Tage später aus dem Haus raus mussten und zum Bachmeier „umgesiedelt“ sind. Nur für die Stallarbeit durfte in der Früh und am Abend das Haus für ca. eine Stunde betreten werden. Angeblich wurde jedes sechste Haus in Egmating auf diese Weise kurzfristig von den Amerikaner beschlagnahmt.
Ich habe auch noch mitbekommen, wie sich plötzlich meine Mutter und ihre Zwillingsschwestern im Heu versteckt haben. Erst später wusste ich, dass sie sich vor den Amerikanern versteckt hatten.
Eingeschult wurde ich noch bei Frau Stab und Herrn Bürger. Beide sehr resolut und diktatorisch. Plötzlich kamen immer mehr Kinder in die Schule. Die Heimatvertriebenen sind in Egmating angekommen. Jedes Haus musste Leute aufnehmen. Auch uns wurden zwei Familien (Denk und Benedikt) zugeteilt. Die Kinder in dieser Zeit, egal ob einheimisch oder vertrieben, waren meist verängstigt oder traumatisiert und ahnungslos bezüglich der tatsächlichen Vorgänge. Dementsprechend haben wir Kinder und Jugendlichen uns schnell aneinander gewöhnt.
Es dauerte bis zur Währungsreform 1948 bis sich die wirtschaftliche und soziale Gesamtsituation in Deutschland wesentlich verbessert hat. Auch beim Soyerwirt war wieder regelmäßig Stammtisch und bessere Stimmung. Es gab wieder Gartenfeste vom Trachtenverein bei denen immer „g`rauft worn is, so lang bis Bluat gflossen is“. Das Gasthaus ist leider 1962 geschlossen worden.
Gerne erinnere ich mich noch an die erste Egmatinger Blaskapelle nach dem Krieg. Sie kam auch auf Initiative von Heimatvertriebenen zu Stande. Die Leitung hatte Josef Jorde und meine Mitspieler waren Otto Mücke, Max Bernhard, Josef Eiler, Vorname? Fitzke, Gustav Scheidhauer, Kathi Lichtmanegger (Schmidt), Sepp und Siegfried Kraus, Sepp Simon. Geprobt wurde im alten Brauereisaal und gespielt haben wir bei Anlässen wie dem Kriegerjahrtag, sowie bei kleinen Feiern und Festen.

Martin Stürzer sen. hat eine Ausbildung als Metzger bzw. Metzgermeister absolviert und anschließend über Jahrzehnte sehr erfolgreich die Metzgerei Stürzer in Egmating geführt.

Karlo Wegner

geb. 1944

Heimatvertriebener aus Pommern, Weg ohne Rückkehr

Meinen Vater Heinz Wegner aus Pommern führte ein besonderes Schicksal nach Egmating: Nach vier Jahren in Russland und mit einer schweren Kriegsverletzung marschierte er noch vor Kriegsende durch Egmating, weil seine Einheit nach Hallein bei Salzburg verlegt wurde. Es gelang ihm seine junge Frau aus Pommern zu sich zu holen – wie er das geschafft hat? Bei Salzburg kam er in amerikanische Gefangenschaft und wurde bei Bad Aibling im Kriegsgefangenenlager interniert. Von dort flüchtete er waghalsig um zu seiner hochschwangeren Frau zu gelangen, die er in einem Bauernhof Hermannsdorf bei Glonn untergebracht hatte. Hier lebten sie einige Wochen. Während die gesamte Verwandtschaft im bitterkalten Winter 1945 Hals über Kopf ihre Heimat verlassen mussten und bei Bremen bei einer Schwägerin notdürftig Unterschlupf fanden, hatten meine Eltern Glück gehabt.
Irgendwie zog es ihn nach Egmating, wo er tatsächlich in einem Zimmer im Hause Strucker wohnen durfte, bevor er glücklicherweise eine gar nicht kleine Wohnung im alten Schloss zugewiesen bekam. Wieder hatten meine Eltern Glück, Bürgermeister Schmidt, Oberlehrer Bürger, der Herr Dekan, und manche alten Egmatinger haben den Habenichtsen aus Pommern geholfen. Es dauerte nicht lange, da empfand er sich als Egmatinger, und er hat sogar, ohne bayrisch zu sprechen, im Saal in der Brauerei ein bayrisches Volksstück inszeniert und staunte über das schauspielerische Talent der Egmatinger Laienspieler (z. B. Postbote Verholzer). Durch sein Schreibbüro, die Tätigkeit als Rechtsbeistand und für ein Meinungsforschungsinstitut und wie viele andere als Waldarbeiter hat er in der schlechten Zeit etwas verdient und lernte dabei das ganze Dorf kennen.
Ich habe mich kindlich naiv gefreut, als die sudetendeutschen Heimatvertriebenen mit ihren Kindern in Egmating ankamen, denn ich hatte mehr Spielkameraden und die Klassen in der Volksschule waren gut besetzt. Als die Freunde rund um Lehrer Wimmer einen Tennisplatz bauten, war mein Vater endgültig im Dorf integriert. Da die Fahrt des Sohnes in die Oberschule und zu seinem Arbeitsplatz bei München bald zu beschwerlich wurde, suchte man sich eine kleine Wohnung in München, fuhr aber an den Wochenenden nach Egmating und verbrachte glückliche Tage oft auch mit meinen Großeltern. So hatten die Eltern eine Heimat verloren und eine neue gewonnen, und dazu in einer wunderschönen Gegend.

Karlo Wegner und sein jüngerer Bruder Klaus haben die Kindheit in Egmating verbracht. Bis heute ist der Kontakt nach Egmating nicht abgerissen um Erinnerungen wachzuhalten.

Maria Kettl (geb. Singer)

geboren 1942

Heimatvertriebene aus Passern/Krumau, Südböhmen

Zusammen mit meinen Eltern und meiner jüngeren Schwester Stefanie sind wir 1946 aus Passern vertrieben worden. Nach äußerst beschwerlichen und menschenunwürdigen Transportbedingungen sind wir in Egmating angekommen und nach einem Zwischenlager im Brauereisaal in Zimmern der alten Brauerei bzw. Mälzerei untergebracht worden. Es waren mehr als zehn weitere Familien mit gleichem Schicksal in dem Gebäudetrakt untergebracht. Da darunter auch viele Kinder waren, sind in kurzer Zeit viele Freundschaften entstanden, die auch den Schmerz und die teilweise Traumatisierung vergessen ließen.
Für viele einheimische Bürger war das Tragen von Holzschuhen, wie es mein Vater einschließlich der Herstellung noch aktiv praktiziert hat, etwas sehr Ungewöhnliches und mancherorts wurde gemunkelt: „Jetzt kommen auch noch die Holländer!“ Nein, Holzschuhe gehörten zu den Traditionen und auch zur Tracht in Südböhmen. Wegen der Nachbarschaft zur Kirche, dem Pfarrhof und dem Herrn Dekan Welker hat sich auch ergeben, dass meine Eltern täglich die Turmuhr aufgezogen haben und auch die Kirchenglocken dreimal am Tag geläutet haben. Waren meine Eltern verhindert, war ich dafür zuständig. Ich kann mich erinnern, dass es immer sehr dunkel und gruselig auf dem Dachboden des Kirchenschiffes war und ich meist eine Freundin mitgenommen habe. Meine weitere Aufgabe in der Kirche war das tägliche „Orgeltreten“ bei der Frühmesse.
Die Pfarrersköchin Maria hat die Orgel gespielt und die Kratzer Gretl hat gesungen und das fast täglich. Unvergessen sind auch die Einsätze bei Dekan Welker, der Brennholz unterm Vordach des alten Pfarrhofs noch selbst gehackt hat und uns vorbeigehenden Kindern zugerufen hat, dass wir das Holz aufrichten sollen. Meist hat es mich und meine Freundin, die Hilda Böhm getroffen. Als Belohnung haben wir dann von der zweiten Pfarrersköchin Ludmilla einen alten Keks und einen modrigen Apfel bekommen. Die Schulzeit mit Lehrer Bürger und Fräulein Finsterwalder war von Freundschaften mit einheimischen und heimatvertriebenen Kindern geprägt. Nach der Schule war, je nach Jahreszeit, Holz und Tannenzapfen sammeln mit Leiterwagen, Schwammerl suchen oder Kartoffelklauben angesagt. Auch die alte Brauerei/Mälzerei, mit ihren vielen dunklen und mystischen Räumen war ein geliebter Tummelplatz für Erkundungen. Unvergessen bleibt bei mir auch die Bemerkung, die ich des öfteren vernommen habe: „Deads de Henna weg, die Flüchtling kemma“.

Maria Kettl empfand und empfindet auch heute keinen Groll und Zorn. Es war die Zeit, wo Deutsche Deutsche kennenlernen mussten.

Max Bernhard

geb. 1938

Einheimischer, geboren in Orthofen

Ich bin mit zwei Brüdern und einer Schwester in Orthofen auf einem kleinen Hof in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Vom Krieg habe ich nur noch die Angst vor etwaigen Bombenangriffen, die im Radio gemeldet wurden, in Erinnerung. Wir waren verängstigt und haben uns versteckt, als plötzlich die Amerikaner an unserer Haustüre waren. Sie haben das gesamte Haus durchsucht und wir mussten für einige Tage das Haus verlassen und sind bei Nachbarn untergekommen. Mit der Ankunft der Heimatvertriebenen hat sich die Einwohnerzahl von Orthofen kurzfristig stark erhöht, da auch hier Heimatvertriebene auf die Häuser verteilt bzw. zwangseingewiesen wurden. Auch wir mussten schnell ein Zimmer für drei Personen (Familie Wurtinger, mit Vater und zwei Kindern) freiräumen.
Für uns Kinder war das alles nur von Vorteil, weil wir viele Spielkameraden, als auch gemeinsame Schulweggänger nach Egmating hinzubekommen haben. Bis auf einige kalte Wintermonate liefen wir meist barfuß und über die Wiesen, zum Groll von manchen Bauern, da es im gesamten Gemeindebereich nur Kiesstraßen gab.
Meine Lehrkräfte waren Herr Bürger und Fräulein Staab. Obwohl schon eine gestandene Frau, musste wir sie mit „Fräulein“ ansprechen. Dazu muss man wissen, dass zu dieser Zeit noch das sog. Lehrerzölibat aus dem Jahr 1880 durch einen Ministererlass des Deutschen Reiches galt und erst Mitte der 50er Jahre per Gesetz abgeschafft wurde. Es bedeutete die sofortige Kündigung von Frauen, die sich zu einer Ehe entschlossen.
In unserer Nachbarschaft befand sich das Haus mit der Arztpraxis von Dr. Panzner und der kleine Kramerladen von Frau Pause. Somit waren wir eigentlich gut aufgestellt zu dieser Zeit in Orthofen. Die Freizeit hat sich überwiegend auf landwirtschaftliche Tätigkeiten oder auf Holzarbeiten im Wald beschränkt. Unvergessen bleibt jedoch mein Mitwirken bei der ersten Egmatinger Blaskapelle nach dem Krieg.
Obwohl es zu dieser Zeit sehr schwierig war, eine Lehrstelle zu finden ist es mir nach langer Suche gelungen, ein Lehrplatz bei der Post, die auch über 40 Jahre meine Arbeitsstelle wurde, in München/Ost zu bekommen. Die Anfahrt war meist mit dem Rad nach Höhenkirchen und mit dem Zug zum Ostbahnhof.

Max Bernhard ist vielen Bürgern auch als Mesner (1997 bis 2018) in der Pfarrkirche in Egmating bekannt.

Franz Nowotny

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